Altenburger Bergsteiger auf dem Gipfel des Pik Arnawad (6.083 m)

Bericht von Gerhard Haag, damals Mitglied bei der BSG Rotation Altenburg, über die Pamir-Expedition 1985.
 
 

Montag, den 14.07.1985
Es ist noch dunkel und wie immer kalt, - 6o C. Trotzdem kommt in unserem Basislager auf der Mittelmoräne des Darwas-Gletschers in 4000 m Höhe Geschäftigkeit auf. Es geht heute zum Ziel der Fahrt, zum Pik Arnawad, mit 6093 m der höchste Gipfel in der Darwaskette. Nach kurzem Frühstück nehmen wir unsere vorbereiteten Rucksäcke auf. Sie enthalten nur das Notwendigste, wiegen aber trotzdem 15 kg. Nur gut, daß die jetzt absteigende 1. Mannschaft die Zelte im Sturmlager beläßt.

Zuerst geht es über den noch gefrorenen Gletscher. Über die Randmoräne kommen wir zur Bergflanke, einem großen breiten Schutthang, dessen linke Seite von einem Hängegletscher bedroht ist. Zwischen den Platten und Steinen suchen wir den Weg nach oben. Rechts ist fester Fels, weiter oben durch Rinnen und Kamine zerrissen, die mit Schnee und Eis gefüllt sind. Durch solch eine steile, 50 – 60 m hohe Rinne geht es hoch. Wir kommen ins Schwitzen. Auf einem leicht ansteigenden Schneefeld, unterhalb der steilen Felsen des Südwestgrates, geht es eine längere Strecke nach links zum steilen Firnhang, der dann hoch zum Gratsattel zieht. Auf halbem Weg zum Hang treffen wir mit der absteigenden Mannschaft zusammen, der wir herzlichst zum Gipfelsieg gratulieren. Sie geben uns noch Informationen für den Aufstieg. Sie raten, sehr zeitig zum Gipfel aufzubrechen, um noch harten Firn zu haben. Die Nachttemperatur im Sturmlager betrug bei ihnen – 16o C, recht kalt. Wir werden uns darauf einrichten.

Wir verabschieden uns. Vorher berichten wir noch von unserem Aufstieg zum 5 200 m hohen "Pik Empor" und erklären die Aufstiegsroute. Die Pause war kurz. Weiter geht es. Bald haben wir den steilen Firnhang erreicht, der in Nordwest-Richtung hochzieht und an dessen Ende das Sturmlager steht. Die Neigung des Hanges beträgt 45 – 60 Grad, im oberen Teil ist er stellenweise noch steiler und er ist schätzungsweise 600 m lang. Wir steigen nach oben, noch im Schatten. Erst spät kommt in diese Flanke die Sonne. Hier muß jeder gegen sich selbst kämpfen, alle aufkommenden Regungen, die nach dem Sinn und Zweck dieser Quälerei fragen, unterdrücken wir. Nur die Zielmotivation muß den Geist beherrschen, den Bewegungsablauf der Gliedmaßen steuern. Die Entfernungen zwischen den Rastplätzen werden immer kürzer. Dextro und Früchtebrot helfen über Schwächen. Die Rucksacklast drückt. Schwer atmend hängt man bei einer kurzen Pause über dem Pickel und ringt nach Luft. Ein Blick zu den Freunden sagt mir, daß hier alle kämpfen müssen, ich also nicht allein Schwäche zeige. Wenn ich bei einer Rast nach unten schaue, wo Renate und Günter vielleicht 80 m unter mir sind, erkenne ich erst, in welcher Steilheit wir uns befinden. Aber der Firn ist griffig und es geht aufwärts. Im oberen Teil rücken die Rastplätze immer enger zusammen, nach 20 Schritten, genau abgezählt, keinen mehr und keinen weniger, muß ich Pause machen, bekomme kaum noch Luft. Ich brauche einige Minuten, bis ich mich erholt habe und im vorgenommenen Rhythmus weitersteigen kann. Wir sind weit auseinandergezogen, Peter und Karl-Heinz weit über mir, Renate und Günter tief unter mir.

Wieder kommen Fragen nach dem Sinn, man hat keine sofortige Erklärung parat, man weiß nur, daß weiter oben dann der Lohn kommt, wenn man das gesteckte Ziel erreicht hat. Das bedeutet in den Bergen Glückseligkeit. So stampft man verbissen weiter. Auch bei dem langsamen Tempo kommt man voran, erringt damit Meter um Meter. Ich sehe schon Peter und Karl-Heinz über die Krümmung des Hanges zum Sattel verschwinden. Einige Minuten später bin ich auch am Ziel. Ein Schneefeld auf einem Pfeiler, wo unsere zwei Zelte stehen, dahinter links die steile Südflanke des Gipfels, des höchsten Berges im weiten Rund.

Auf einem Steinhaufen wird sich erst einmal ausgestreckt, Erholung gesucht. Die Sonne brennt hier in einer Höhe von 5180 m unbarmherzig. Wir haben keinen kühlenden Wind, azurblauer Himmel, müssen alles bedecken, um nicht aufzubrennen. Günter und unsere Ärztin haben das Lager auch erreicht. Mich treibt es bald hoch, die Szenerie um uns ist einfach zu schön. Unser Biwakplatz ist umgeben von bizarren Gipfeln, alle über 5000 m hoch. Ihre weißen Kappen und Gletscher stehen im Kontrast zu den dunkelgrauen steilen Felswänden. Die Schneegrenze liegt hier in Mittelasien, bedingt durch das Kontinentalklima, auf der Südseite bei 4800 – 5000 m. Auf der Nordseite geht sie bis 4000 m hinunter, also wesentlich höher als bei uns in Europa. Ich gehe zum Pfeilerabbruch, sehe tief unten den Darwas-Gletscher, wie er sich wie ein riesiges Schuppentier das Tal entlang windet. Ich sehe auch, wie aus den Lawinenkesseln von den Seiten weitere Gletscher auf ihn herunterquellen, um sich mit diesem zu vereinen, sehe, wie sich die Seiten- und Mittelmoränen bilden. Unser Lager tief unten auf der Mittelmoräne kann ich mit bloßem Auge nicht erkennen. Die Entfernung ist zu weit. Ich sitze fast eine Stunde allein vorn am Pfeiler, kann mich nicht satt sehen an dieser herrlichen Landschaft. Man müßte es speichern können, jederzeit abrufbar. Schon um all dies zu sehen, hat sich der Aufstieg, die Fahrt gelohnt. Alle Quälerei, die notwendig war, ist vergessen. Man ist nur noch glücklich.

Ich hoffe, daß ich die Luft und die Kraft habe, morgen zu dem stolzen Gipfel in über 6000 m Höhe zu kommen. Es wäre der größte Erfolg in meiner alpinen Laufbahn. Zur Zeit geht es mir allerdings nicht besonders, wenn ich mich niederbeuge, dreht es im Kopf. Ich hoffe, es bessert sich. Wir machen gemeinsam Abendbrot. Allen schmeckt es, ein Zeichen für gute Akklimatisation. Dabei schauen wir immer hoch zum Gipfel. Es geht zeitig in die Federn, nach einem letzten Blick auf das Gipfeldreieck ziehe ich den Zelteingang zu. Mit den Gedanken bin ich beim morgigen Aufstieg, war mir sicher, daß ich es schaffen würde.

Dienstag, den 15.07.1985
Ich habe relativ gut geschlafen. Wir wollten zeitig aufstehen, werden aber erst 5.30 Uhr munter. Es ist eisig kalt, - 15o C. Es kostet schon Überwindung, aus dem warmen Schlafsack zu kriechen, raus in Dunkle und Kalte. Karl-Heinz bemüht sich um das Frühstück. Heute gibt es Prappes, unser Spezialgemisch. Es ist nahrhaft, und man braucht nur heißes Wasser zum Aufbrühen. Weiterhin gibt es 3 Scheiben Knäcke und 50 g Käse sowie heißen Tee. Wir fühlen uns alle wohl, haben uns in der Nacht gut erholt. Mein Schwindelgefühl beim Bücken ist vorbei. Ich bin also voll fit, staune selber. Warm angezogen, mit dem Notgepäck im leichten Rucksack, steigen wir gegen 7.20 Uhr los.

Wir haben gute Verhältnisse, beinhart gefrorenen Firn, so daß wir den Steilhang, uns mehr am linken Rand halten, gut hochkommen. Ich fühle mich blendend und die anderen auch. Wir sind eben alle gut akklimatisiert, hatten die Zeit vorher gut genutzt. Wir gehen ohne Sicherung in dieses Steilgelände, voll im Vertrauen auf unser Können. Unser Aufstiegstempo ist langsam, aber stetig, mit entsprechenden Pausen. Karl-Heinz geht voran. Unser Vorteil ist es, daß wir zum Teil die Spuren von der ersten Mannschaft benutzen können. Weiter oben folgt dann ein sehr steiles Stück, eingerahmt rechts und links von Felsen. Die Knöchel schmerzen durch das ständige Abwinkeln der Füße. Durch die Höhe werden es nur noch 10 – 15 Schritte, die man vorankommt. Dann folgt eine Pause und Luft holen, bis der Herzschlag wieder ruhig geworden ist. Wieder 10 – 15 Schritte, so geht es nach oben. Komisch, daß heute keine Gedanken über den Sinn der Bergsteigerei mehr kommen. Wahrscheinlich läßt mein Gehirn dies im Moment nicht zu. Es ist nur darauf ausgerichtet, das Ziel zu erreichen, dabei aber alles, was mich umgibt, mit vollen Sinnen aufzunehmen. Ein Hochgefühl hat mich erfaßt. Es geht auf eine weitere Felsstufe zu, einen Grat. Die Steigeisen kratzen auf dem Fels, finden aber auch hier Halt. Dann kommt der schmale Schneegrat, wo es nicht mehr höher geht. Karl-Heinz und Peter warten hier auf uns. Renate als Frau, muß als Erste hoch, dann ich als Senior. Es sind die letzten Meter zum Gipfel des 6083 m hohen "Pik Arnawad".

Ich konnte vor Glück nicht reden, Tränen verschleierten die Augen, aber es ging allen so. Jeder kämpfte um Fassung. Wir umarmten uns ohne viel Worte, waren gemeinsam unendlich glücklich. Es war eine denkwürdige Stunde, drei Altenburger, mit Peter als Ex-Altenburger eigentlich vier, erstmals in über 6000 m Höhe. Vorerst konnte ich weiter nichts tun, als schauen, dieses wunderbare Panorama aufnehmen und genießen. Erst nach und nach fand ich zu mir selber, konnte fotografieren, mich mit den Freunden unterhalten. Wir saßen auf einem 5 - 6 m langen und 2 m breiten Firnplateau des Gipfels. Nach Norden sahen wir den steilen senkrechten Abbruch zum Tal mit dem angestauten See, wo wir beim Anmarsch gezeltet hatten, wo der lange zerklüftete Seitengletscher, genährt von der Nordseite unseres Gipfels, zum Hauptgletscher hinkriecht. Dahinter befindet sich der Masorkamm, die Gipfelflur der "Peter-I.-Kette". Vom Westen sind wir über den Grat zum Gipfel gekommen, tief unten sehen wir den 16,5 km langen Darwas-Gletscher und die weißen Gipfel, die ihn einsäumen, den "Pik Empor", unseren ersten Pamir-Gipfel. Südwärts geht der Blick zum Wantschkamm, zum Ruschankamm, den Bergen Afghanistans. Wir schauen auf Gipfel bis zum Dunst des Horizontes. Nach Osten und Nordosten erblicken wir das unvergeßliche Panorama der "Akademie-Kette". Dort stehen die höchsten Berge der Sowjetunion, der "Pik Kommunismus" mit 7495 m, gut erkennbar durch seinen typischen Aufbau, gleich daneben der "Pik Korshenewskaja", 7105 m hoch. Mehr rechts glauben wir den "Pik Moskwa" mit 6785 m zu sehen. Wohin man schaut, eisbedeckte Bergriesen, ein Meer davon, die meisten 5000 m hoch, die höchsten die 6000 m-Grenze überschreitend. Von hier oben sieht man auch die gewaltigen Sammelbecken für Eis und Schnee, die Nährgebiete der Gletscher. Wir versuchen, die Eindrücke auf dem Film festzuhalten, ob es aber gelingt, ich glaube es kaum.

Peter hatte unterhalb der Firnspitze einen Steinmann mit der Gipfelnotiz gefunden. Eine sowjetische Alpinisten-Gruppe, viele Meister des Sports dabei, hatten eine Aufstiegsroute durch die vereiste Nordwand über den überwächteten Nordostgrat zum Gipfel geführt. 1980 war dies geschehen, eine hervorragende Leistung. Wir holten Steinplatten und bauten damit auf der Firnspitze einen neuen Steinmann, wo wir unsere Notiz und die der ersten Mannschaft hinterlegten. Ein Wimpel unseres Sportverbandes mit unseren Namen ergänzte die Gipfelnotiz.

Die Zeit hier oben verging viel zu schnell, vor allem auch, da wir trotz der Höhe keine Beschwerden hatten. Durch das hervorragende Wetter konnten wir die Gipfelstunde voll genießen. Reichlich 2 ½ Stunden waren wir auf dem Gipfel, wir mußten uns losreißen, den steilen Abstieg beginnen, zurück zum Sturmlager.
 

(Dieser Artikel wurde veröffentlicht im Mitteilungsblatt des Deutschen Verbandes für Wandern, Bergsteigen und Orientierungslauf der DDR, Bezirk Leipzig, Heft 11 – November 1986)
 


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