ALTENBURGER PAMIR-EXPEDITION 1988 - VON DER DDR IN DIE BERGWELT TADSHIKISTANS

Rainer Bauch und Edgar Nönnig
 

Im Sommer 1988 brachen wir, eine kleine Gruppe Bergsteiger, für mehr als fünf Wochen in das über 5.000 Kilometer von unserer Heimat entfernte mittelasiatische Hochgebirge Tadshikistans, den Pamir, auf. Dieses Gebirge, mit Gipfelhöhen von über 7.000 Metern, faszinierte in der Vergangenheit schon immer viele Abenteurer aus aller Welt. Und für Bergsteiger der ehemaligen DDR war es ohnehin das Nonplusultra der möglichen Bergunternehmungen. Doch Privatreisen in die zur einstigen Sowjetunion gehörende Bergregion waren zu jener Zeit nur unter Umgehung gesetzlicher Vorschriften und Eingehung großer Risiken durchführbar. Es bedurfte daher einiger Anstrengung, um dieses Ziel schließlich zu erreichen.

Der Pamir, zwischen dem 37. und 40. Grad nördlicher Breite und dem 70. und 76. Grad östlicher Länge gelegen, befindet sich im Grenzgebiet der jetzigen GUS-Staaten (damals Sowjetrepubliken) Tadshikistan und Kirgistan zu Afghanistan, Pakistan und China. Umgeben von weiteren bekannten Hochgebirgen und Bergketten Mittelasiens stellt er eine Art Gebirgsknoten dar. Von ihm strahlen die höchsten und mächtigsten Gebirge dieser Erde nach allen Richtungen aus; nach Norden und Nordosten zum Alai und Tienschan, nach Osten zum Altin Tagh und Kunlun, nach Süden und Südosten zum Karakorum und Himalaja sowie nach Südwesten zum Hindukusch. Im Westen, eingebettet zwischen der Serawschanischen und Hissarischen Kette, befindet sich noch das selbständige, wenn auch flächenmäßig relativ kleine Fan-Gebirge. Das Hochland des Pamir (der Name ist türkischer Herkunft und bedeutet „Kalte Steppenweide“) wird wohl auch deshalb als das Dach der Welt bezeichnet.
Der größte Teil des Pamir befindet sich auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion; in Tadshikistan, in Usbekistan und Kirgisien. Hier ragen aus gewaltigen Gebirgsketten drei Berge empor, die sich über die 7.000-Meter-Grenze erheben. Geordnet nach ihrer Höhe sind dies: Pik Kommunismus (7.495 m) im Schnittpunkt der Akademie- und Peter-I.-Kette, Pik Lenin (7.134 m) im Transalai und Pik Korshenewskaja (7.105 m) in der nördlichen Akademiekette.

Das von uns angepeilte Ziel war die Besteigung des Pik Korshenewskaja im zentralen und höchsten Teil des Pamir. Doch verschiedene Umstände zwangen uns vor Ort dazu, auf ein anderes Gipfelziel auszuweichen. Ein Hauptgrund war der schwierige und hindernisreiche Anmarschweg. Ausgetretene Trekkingpfade, wie sie etwa im Himalaja vorhanden sind, existierten hier nicht. Langwierige Ausweichmanöver über oft ausgesetzte und steinschlaggefährdete Bergflanken brachten uns zeitlich immer mehr in Verzug, so daß schließlich auf das ursprüngliche Gipfelziel verzichtet werden mußte.

Zum Ausgangsort bestimmten wir Duschanbe, die Hauptstadt der tadshikischen Hochgebirgsrepublik. Von dort aus wurden hunderte Kilometer Gebirgsvorland durchquert, eine Region, in der zahlreiche Gebirgskämme in ihrer Großartigkeit und ihren Dimensionen den Westalpen um nichts nachstehen. Bis ins letzte Kischlak (arab.: Dorfsiedlung) des teils besiedelten, teils entvölkerten Tals des Gletscherflusses Obichingou drangen wir vor, bevor die eigentliche Bergtour zu den Hochregionen des Pamir beginnen konnte.
Unsere Anmarschroute durch das Obichingou-Tal und die Trekkingtour über den Sugran-Paß bis zur Ortschaft Irget bzw. Muk im Muksu-Tal wird zwar von Ausländern recht selten begangen, ist aber gerade bei deutschen Bergsteigern nicht ganz unbekannt. Bereits im Jahre 1913 bereiste der bekannte Pamirforscher und Bergsteiger Willy Rickmer-Rickmers mit einem Expeditionsteam des damaligen Deutschen und Österreichischen Alpenvereins das Gebiet. Den Hauch der Geschichte spürten wir insbesondere im Obichingou-Tal immer wieder. Oft schien es, als sei die Zeit dort stehengeblieben. Die Resultate der stalinistischen Bevölkerungspolitik waren in Form vieler zerstörter und heute unbewohnter Bergdörfer sichtbar. Eine zaghafte Neubesiedelung dieser Täler hat aber in den letzten Jahren wieder eingesetzt. So kam es in einigen Bergdörfern zu interessanten Begegnungen mit der dort ansässigen Bevölkerung, deren uns fremde Lebensweise wir ein wenig kennenlernten.
In den siebziger und achtziger Jahren waren noch Bergsteiger- und Geologengruppen aus Weimar und Magdeburg in der Region zwischen den Gletscherflüssen Obichingou und Muksu tätig. Weitere Unternehmungen sind zumindest uns nicht bekannt. Obwohl keiner unserer Teilnehmer zuvor in dieser Region des Pamir unterwegs gewesen war und die Gegend kannte, durchquerten wir in der Jahreszeit, als die Gletscherflüsse stark wasserführend waren, ein höchst unwegsames wie unbekanntes Gelände. Lediglich die Autoren des vorliegenden Beitrages hatten 1986 das Fan-Gebirge besucht, ein selbständiges Hochgebirge am westlichen Rand des Pamiro-Alai, wo u.a. zwei Gipfel von über 5.000 Meter Höhe (Samok, 5.070 m, und Pik Energie, 5.113 m) bestiegen werden konnten.

Die Bergfahrt 1988 erfolgte mit schwerstem Gepäck, mit Kletterausrüstung und Verpflegung für mehrere Wochen. Auf Sherpas oder Träger, wie beispielsweise in Nepal und Pakistan üblich, konnten wir aber nicht zurückgreifen. Abgesehen davon, daß in den Dörfern des Pamir kein organisiertes Führer- bzw. Trägerwesen existierte, war es zudem ohne autorisiertes russisches Begleit- oder Überwachungspersonal verboten, abgelegene Bergregionen zu betreten. So waren wir unsere eigenen Gepäckträger und mußten anfangs über 45 Kilogramm an Ausrüstung und Proviant pro Person transportieren. Eine Last, die uns vor allem zu Beginn der Bergtour erhebliche Schwierigkeiten bereitete und viel Kraft kostete. Doch dafür war die Landschaft unterwegs so menschenleer und unberührt, daß nach Verlassen des letzten bewohnten Bergdorfes uns lediglich zwei Gruppen Russen bzw. Usbeken begegneten.
Der Weg bis zum Erreichen des 6.330 Meter hohen Gipfels Pik Radianow (in der östlichen Peter-I.-Kette), dessen Besteigung schließlich den Höhepunkt der Unternehmung bildete, war lang, anstrengend und nicht ungefährlich. Es mußte das Kirgis-Ob-Tal mit seinen überraschenden Hindernissen und Nebenflüssen bewältigt werden. So konnten wir beispielsweise den Igan nur mittels selbstinstallierter Seilbrücke überqueren. Es galt weiterhin, einen über 4.300 Meter hohen Paß zu finden und zu überschreiten, wobei unser Weg ständig entlang steinschlaggefährdeter Rinnen und über steile Berghänge führte. Drei Gletscher mit ihren Schönheiten, aber auch Tücken waren zu begehen. Hierbei bereiteten uns insbesondere die zwei Eisbrüche des Schini-Bini-Gletschers mit hoch aufragenden Seraks erhebliche Schwierigkeiten. Wie so mancher Vorgänger machten auch wir die Erfahrung, daß viele Anmarschwege im zentralen Pamir weit schwieriger zu bewältigen sind als manch hoher Gipfel jenseits der 5.000-Meter-Marke.
Ständig umgeben waren wir jedoch von einer einzigartigen Naturkulisse des geologisch noch relativ jungen Gebirges, das durch gewaltige Erosionen gezeichnet ist. Innerhalb kurzer Zeit durchlebten wir das sommerliche Wüstenklima ebenso wie die Kältezonen der Gipfelwelt.

Erst heute, nach der politischen Wende in Ostdeutschland, kann in dieser Form über die damalige Bergunternehmung berichtet werden. Zu DDR-Zeiten war dies nicht möglich, denn schließlich handelte es sich um keine offizielle Bergfahrt, auch wenn das Unternehmen von einigen verständnisvollen Sportfunktionären aus Altenburg unterstützt wurde. Für eine offizielle Expedition, wie sie vor allem westeuropäische Bergsteiger kennen, bestand trotz der scheinbar engen Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion keine legale Grundlage.
Der Pamir konnte also, abgesehen von wenigen Unternehmungen der damaligen DDR-Nationalmannschaft Alpinistik und sogenannter Auswahlmannschaften des DWBO (Deutscher Verband für Wandern, Bergsteigen und Orientierungslauf der DDR), nur illegal erreicht werden. Eine Möglichkeit bestand darin, mittels Durchreise- bzw. Transitvisum von Polen oder der früheren CSSR kommend, sowjetisches Territorium zu betreten. Auf Anfrage erklärte man, das Land wieder in Richtung Rumänien verlassen zu wollen. Doch in der Sowjetunion angekommen, wurden sogleich Vorbereitungen für die Weiterreise ins Landesinnere getroffen. Sicher konnte man sich aber erst fühlen, wenn die abgelegenen Gebirgsregionen erreicht waren. Die Gefahr, unterwegs von örtlichen Behörden aufgrund fehlender Aufenthaltsgenehmigungen erkannt und zurückgeschickt zu werden, bestand während der Anreise fast ständig. Oft jahrelange Vorbereitungen einer solchen Bergexpeditionen standen dabei auf dem Spiel. Wer aber damals von der DDR aus in ein vergletschertes Hochgebirge vordringen wollte, das in den Staaten des ehemaligen Ostblocks nur in der Sowjetunion zu finden war, mußte solche Risiken eingehen.

Um ohne Schwierigkeiten bis nach Tadshikistan zu gelangen, wo unsere Pamir-Expedition begann, buchten wir beim damaligen staatlichen Reisebüro der DDR eine einwöchige Individualreise nach Duschanbe, mit Aufenthalt im dortigen Intouristhotel „Tadshikistan“. Während dieser Zeit waren wir normale Touristen, auch wenn sich unser Gepäck und die Bekleidung erheblich von solchen unterschied.
Zwei Tage vor dem offiziellen Rückreisetermin verließen wir dann unbemerkt am frühen Morgen das Hotel und setzten uns in Richtung Pamir ab. Für die Mitarbeiter von Intourist, dem sowjetischen Reiseveranstalter, waren wir von nun an unauffindbar. Es folgte eine abenteuerliche Reise, zunächst von Duschanbe über Obigarm bis nach Paschimgar ins obere Obichingou-Tal. Als Transportmittel diente uns ein Linienbus bis Obigarm, mehrere Lastkraftwagen bis zur Ortschaft Mionadu, ein russischer GAS-Jeep mit Chauffeur bis Roga und schließlich drei Lastesel bis zum ehemaligen Bergdorf Paschimgar. Die kürzesten Anmarschwege, auf denen sich die offiziell agierenden Alpinistengruppen in der Regel bewegten, wurden von uns aus Sicherheitsgründen gemieden. Wir hingegen wählten eine selten begangene Route in die Hochregionen des Zentralpamir.

Unsere Gruppe bestand aus insgesamt fünf Teilnehmern. Neben den Autoren Edgar Nönnig und Rainer Bauch von der früheren DWBO-Sektion „Bergsteigen“ der BSG (Betriebssportgemeinschaft) von Lokomotive Altenburg waren dies: Dr. Elisabeth Stempel aus  Altenburg, einziger weiblicher Teilnehmer und unsere Ärztin, Dr. Klaus Müller aus Königshain bei Mittweida und Axel Franke aus Leipzig.
 
 

Die Besteigung des Pik Radianow

Rainer Bauch
 

Am 5. August 1988 war endlich das Basislager auf dem oberen Schini-Bini-Gletscher erreicht. Wir befanden uns in einer Höhe von etwa 4.800 Metern, der eisgepanzerten Nordflanke des Pik Radianow gegenüber. Wenig später standen auch unsere beiden Bergzelte auf der Rand- bzw. Seitenmoräne des Gletschers.
Vierzehn anstrengende Tagesmärsche (einen Ruhetag nicht mitgerechnet) vom Ausgangslager Paschimgar, den Kirgis-Ob entlang bis zum Dawlachan- bzw. Finsterwalder-Gletscher, weiter über den nördlichen Sugran-Paß (4.313 m) zum Sugran- bzw. Brückner-Gletscher und den ganzen Schini-Bini-Gletscher aufwärts, lagen nun hinter uns.
Schon am nächsten Morgen sollte der Aufstieg zum Pik Radianow beginnen. Als einzige Aufstiegsroute kam die Nordflanke in Frage, wo sich im mittleren Bereich ein mächtiger Eisbruch befindet. Uns war klar, daß wir dort auf die Hauptschwierigkeiten treffen würden.

Am 6. August wurden wir zeitig (6.00 Uhr morgens) von Edgar geweckt. Er war wie so oft als erster munter. Aus dem Schlafsack zu kriechen, kostete besonders am heutigen Tag Überwindung, denn es war noch empfindlich kalt. Immerhin zeigte das Thermometer auf minus 15 Grad Celsius. Obwohl für den Aufstieg alles vorbereitet war, vergingen noch etwa zwei Stunden, bis wir aufbrechen konnten. In unseren Rucksäcken befand sich nur das Nötigste: Biwak- und Zeltausrüstung, Verpflegung für vier Tage einschließlich Kocher und Gaskartuschen, die technische- und Sanitätsausrüstung sowie die persönlichen Sachen. Dennoch wog der Rucksack jedes Teilnehmers 15 bis 17 Kilogramm.
Vom Basislager aus mußte zunächst der hintere Schini-Bini-Gletscher bis unter den Paß (zwischen dem 6.006 Meter hohen Pik Krupskaja und unserem Berg) gequert werden. Erst dort begann der eigentliche Aufstieg, der in südlicher Richtung zunächst über einen breiten, mit Firn bedeckten Bergrücken führte. Wir kamen recht gut voran. Axel und Klaus wechselten sich hier in der Führungsarbeit ab. Die Sonne erreichte uns noch nicht und somit war auch der Firn relativ fest.
Auf einem Absatz in etwa 5.200 Meter Höhe wurde erstmals gerastet. Von hier aus eröffnete sich uns ein herrliches Panorama. Wir erkannten den nicht weit entfernten Pik Korshenewskaja (7.105 m), den Pik Kommunismus (7.495 m), den Pik der Vier (6.300 m) und weitere, östlich von unserem Standort befindliche Gipfel des Zentralpamir.
Schon wenige Höhenmeter weiter wurde die Firnwand immer steiler. Der Blick nach oben verhieß nichts Gutes. Dort spiegelte sich die Sonne im abweisendem Blankeis. Hier hätte der weitere Aufstieg in Fallinie die Bewältigung einer steilen und in ihrer Schwierigkeit wie Länge nicht einschätzbaren Eiswand bedeutet. Mit unserer eher dürftigen Ausrüstung ein viel zu riskantes Unternehmen. Wir waren also gezwungen, uns etwas einfallen zu lassen.
Auf etwa 5.300 Meter Höhe querten wir deshalb nach rechts, dem dortigen Eisbruchgelände zu. Riesige Eistürme ragten hier aus unberührtem Firnschnee empor. Steile Firnflanken endeten auf vorstehenden Eisabsätzen. Es war jetzt unerläßlich, sich anzuseilen, denn ständig drohten Spaltenstürze.
Vorsichtig bewegten wir uns durch dieses Labyrinth aus Firn und Eis. Hier spurte anfangs Edgar, ich löste ihn später ab. Der Weiterweg wurde immer schwieriger und anstrengender. Doch nicht nur die Schwierigkeiten und Gefahren, auch die Orientierungsprobleme nahmen zu.
An mächtigen Eisabbrüchen vorbei ging es ständig höher. Schon bald wurde die Firnauflage infolge der Sonneneinstrahlung immer weicher, was den weiteren Aufstieg wesentlich erschwerte. Bald wühlten wir uns nur noch durch hüfttiefen, mehligen Schnee aufwärts, ohne richtigen Halt zu finden.

Gegen 15.30 Uhr wurde schließlich eine Höhe von etwa 5.600 Meter erreicht, wenn man die gegenüberliegenden Gipfel Birs (5.621 m) und Pik Weimar (5.613 m) als Richtwert benutzte. Ein riesiger Eisabbruch, leicht überhängend, versperrte hier den Weiterweg. Doch waren wir froh, uns nach den Anstrengungen ein wenig ausruhen zu können. Hinter uns lagen siebeneinhalb Stunden Aufstieg im teilweise schwierigen Eisbruchgelände. Auch sollte hier, im Schutz der großen Eiswand, unser Hochlager entstehen.
Längere Zeit suchten wir dann nach einer weiteren Aufstiegsmöglichkeit, fanden aber nur eine steile Eisrinne links neben dem Eisabbruch. Diese Rinne endete nach etwa 25 Metern auf einem Absatz, der von unserem Standort aus nicht genau zu erkennen war. Uns blieb jedoch nichts weiter übrig, als die Durchsteigung zu versuchen. Eine andere machbare Route gab es nicht.
Während Elisabeth, Axel und Klaus den Lagerplatz für unsere Zelte herzurichten begannen, stieg ich, von Edgar gesichert, in die Eisrinne ein. Im unteren Bereich ging es recht gut, denn hier befand sich noch weicher, angewehter Schnee. Weiter oben, im festen Eis, setzte ich eine Eisschraube als Zwischensicherung. Hier besaß die Eisrinne eine Neigung von etwa 70 Grad. Doch größere Schwierigkeiten bereitete der Aufstieg nicht, und schon bald war der Absatz, ein ziemlich exponierter Standort, erreicht. Wieder befand ich mich mitten in einem Eisbruch und tastete deshalb vorsichtig mit dem Pickel nach möglichen Spalten. Direkt vor mir, zwischen dem Absatz und einem Eisabbruch, klaffte eine riesige, teils überwächtete Spalte. Vorsicht war also angesagt.
An geeigneter Stelle wurde schließlich ein großer Firnhaken zur Selbstsicherung befestigt, und Edgar konnte nachkommen. Am Seil gesichert, setzten wir dann den Aufstieg nach rechts durch einen gewaltigen Eiskanal fort. Die riesigen, bis zu zwanzig Meter hohen Eiswände beiderseits endeten erst nach etwa 300 Metern auf einer breiten, ebenen Firnfläche (Plattform), von wo aus der weitere Aufstieg über einen steilen Firnhang einzusehen war. Irgendwie mußte es morgen dort aufwärts gehen. Der Zugang zum Gipfel war jedenfalls gefunden.

Mit der Abendsonne stiegen wir zurück und seilten uns zuletzt an einer Reepschnur, die am Firnhaken befestigt wurde, durch die Eisrinne zu den anderen ab. Wir waren total erschöpft. Elisabeth, Axel und Klaus hatten in der Zwischenzeit damit begonnen, das Hochlager im Schutz der großen Eiswand herzurichten. Zu diesem Zweck mußten die Zeltplätze erst vorbereitet, also vom Schnee freigeschaufelt werden. Gegen 18.00 Uhr standen endlich unsere beiden Zelte, 5.600 Meter über dem Meeresspiegel, hoch über dem Schini-Bini-Tal.

Tags darauf, am 7. August, weckte uns Edgar um 6.30 Uhr. Doch keiner verspürte die rechte Lust zum Aufstehen. Ich hatte, auch wegen des Sauerstoffmangels im Zelt, ohnehin kaum geschlafen, fand die ganze Nacht einfach keine Ruhe.
Überhaupt kamen wir nur sehr schwer in Gang. Die Kälte am frühen Morgen machte uns zusätzlich zu schaffen. Dann Kochen, ein dürftiges Frühstück, Rucksäcke packen. Hier, in über 5.500 Metern Höhe, kostete fast jeder Handgriff Überwindung. Selbst das Anziehen der Bergschuhe wurde zur Schwerstarbeit.
Unser selbst zusammengestelltes Müsli, bestehend aus Milchpulver, Haferflocken, Rosinen, Traubenzucker, Nüssen und einer Prise Salz, hatte schon seit einiger Zeit einen unangenehm bitteren Nachgeschmack. Am schlimmsten war jedoch, daß das Teewasser nicht warm werden wollte.

Nur mit einem ganz leichten Rucksack (in dem sich die Kletterausrüstung, das Erste-Hilfe-Paket einschließlich Rettungsdecke sowie die Verpflegung befand) wurde gegen halb zehn Uhr aufgebrochen. Wir kletterten zunächst an der am Vortag befestigten Reepschnur (Fixseil) die Eisrinne unmittelbar neben unserem Hochlager aufwärts. Weiter ging es dann auf dem bereits erkundeten Weg durch den Eiskanal bis zur Plattform. Hier begann für uns wieder Neuland.
Als erster querte Klaus den vor uns befindlichen Firnhang und steuerte, leicht ansteigend, auf das gegenüberliegende Eisbruchgelände zu. Ab etwa 5.800 Meter Höhe übernahm Edgar die Führung. Er spurte durch tiefen, aufgeweichten Firn und hielt sich dabei ständig links vom Eisbruch. Die Firnwand selbst wies hier eine Neigung von stellenweise 55 bis 60 Grad auf. Es wurde immer anstrengender, und ich versuchte, den für mich günstigsten Rhythmus zu finden. Mit langsamen Bewegungen schaffte ich an die fünfzehn Schritte hintereinander und mußte danach, auf den Eispickel gestützt, eine kurze Verschnaufpause einlegen. Das Zählen der Schritte nahm jetzt meine ganze Konzentration in Anspruch.

Oberhalb des Eisbruchs hielten wir uns leicht rechts, bis schließlich gegen 14.00 Uhr der breite Radianow-Sattel in schätzungsweise 6.100 Meter Höhe erreicht wurde. Wir befanden uns, wie sich später herausstellte, zwischen dem ersten Gipfel des Pik Oschanin (Höhe unbekannt) und dem Pik Radianow. Der immerhin 6.006 Meter hohe Pik Krupskaja am Talschluß des Schini-Bini war jedenfalls wesentlich niedriger als unser augenblicklicher Standort. Auch konnte man über diesen Gipfel hinwegschauen und entfernt die Berge der Transalai-Kette, im Osten die der Akademie-Kette erkennen.
Nach ausgiebiger Rast wurde schließlich der etwa 250 bis 300 Meter breite Radianow-Sattel (erneut durch knietiefen Schnee) überquert. Hierbei orientierten wir uns nach rechts, westwärts, um den dort aufragenden Pik Radianow über seinen breiten Nordostgrat zu besteigen. Den östlich vom Sattel befindlichen ersten Gipfel des Pik Oschanin schätzten wir wesentlich niedriger ein.

Plötzlich zogen über uns dicke Wolken auf und es wurde empfindlich kalt. Spätestens hier bestätigte sich, daß wir die wärmenden Daunenjacken nicht umsonst eingepackt hatten.
Über den teilweise vereisten, jedoch breiten und nur wenig schwierigen Nordostgrat stiegen wir dann weiter aufwärts. Bis zum Gipfel mußten noch etwa 200 Höhenmeter bewältigt werden. Über den Grat blies ein ziemlich starker und eiskalter Wind. Dieser letzte Anstieg fiel mir persönlich relativ leicht. In einer Schneemulde unmittelbar vor dem überwächteten Gipfel entledigten wir uns unserer Rucksäcke. Hier traf ich gemeinsam mit Axel ein, der sich noch auf seinen Rucksack setzen und kurz ausruhen wollte.
Als ich den höchsten Punkt des Pik Radianow betrat, warteten dort bereits Edgar und Klaus. Wir gratulierten uns gegenseitig. Nach etwa zehn Minuten folgte Axel; nach weiteren fünf Minuten Elisabeth. Gegen 16.30 Uhr standen alle auf dem Gipfel. Somit hatten wir unser Ziel, zumindest einen Berg von über 6.000 Meter Höhe zu besteigen, doch noch erreicht. Der anschließende Rundblick vom Gipfel war traumhaft. Nur Berge, soweit man sehen konnte. Die Freude war bei allen riesengroß.

Etwa 2.000 Meter unter uns schlängelte sich der Schini-Bini-Gletscher mit seinen beiden Eisbrüchen, die uns beim Aufstieg zum Basislager solche Schwierigkeiten bereitet hatten, abwärts. Im Tal südlich des Gipfels erkannten wir den kleinen Radianow-Gletscher. Dieser trifft nach etwa vier bis fünf Kilometern auf den Sugran-Gletscher.
Uns direkt gegenüber, in östlicher Richtung, ragte steil und abweisend der etwa 6.400 Meter hohe Hauptgipfel des Pik Oschanin aus dem Hauptkamm empor. Die gewaltigen Eisbalkone und Wächtenhänge an diesem Bergmassiv wirkten ziemlich abschreckend. Blickt man vom Gipfel des Pik Radianow westwärts über die abfallende Kammlinie, werden dort mächtige Schneeüberwehungen sichtbar. Diese Wächtenhänge gelten allgemein als Ursprung der Gletscher. Südwestliche Winde wehen den Schnee über die Kämme, wo er sich sammeln kann. Die Mächtigkeit des Schnees wird im Windschutz unter dem Grat stetig größer, was eine zunehmende Auflast zur Folge hat. Hierbei verdichten sich die Schneeflocken bald zu körnigem Firnschnee und zu Firneis. Es entstehen in der Folge Hängegletscher und Eisbalkone. Kragen dann diese Gebilde zu weit über oder werden aufgrund ihrer Masse instabil, stürzen sie in die Bergflanken. Dort und in den Eiskesseln erfolgt schließlich die vollständige Umwandlung des Schnees in Eis. Die dann einsetzende plastische Verformung garantiert letztendlich die Fließbewegung des Gletschereises talwärts.
Wir erkannten von unserem Standort deutlich, daß sämtliche Gipfel zu beiden Seiten des Schini-Bini-Gletschers niedriger sind als der Pik Radianow. Er ist hier die höchste Erhebung; gefolgt vom Pik Krupskaja (6.006 m), vom Birs (5.621 m), vom Pik Weimar (5.613 m), vom Pik Moskwin (5.549 m) und vom Pik Fersmann (5.500 m).

Auf einer etwas tiefer liegenden Felszacke entdeckte Axel unter einem Steinmann die Gipfelnotiz der Erstbesteiger. Dieser Notiz zufolge wurde der 6.330 Meter hohe Pik Radianow von einer grusinischen Alpinistengruppe unter D.D. Dangadse im Rahmen einer Überschreitung am 29. Juli 1976 erstmals betreten und als „Pik 6110“ bezeichnet. Die damalige Höhenangabe (6.110 Meter) war jedoch falsch.
Auf einer Landkarte des betreffenden Gebietes (Peter-I.-Kette und nördliche Akademiekette), angefertigt in der ehemaligen CSSR, wird der Pik Radianow mit einer Höhe von 6.330 Metern angegeben. Nach Auswertung weiterer Landkarten (aus der damaligen Sowjetunion und von Georg Renner aus Weimar) sowie unserer Kenntnisse vor Ort gelangten wir schließlich zu dem Ergebnis, daß die CSSR-Landkarte der Wirklichkeit am nächsten kommt. Hieran merkt man bereits, daß dieser Teil des Pamir-Gebirges noch relativ unbekannt ist und viele Gipfel unbestiegen sind. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn die von uns durchgeführte Besteigung des Pik Radianow 12 Jahre danach die zweite Besteigung überhaupt war und gleichzeitig eine Erstbegehung der Nordroute (Nordweg) darstellt. Auch wir hinterlegten eine Gipfelnotiz, versehen mit unseren Namen, der Herkunft und Kurzbeschreibung der Aufstiegsroute.

Nach über einer Stunde Aufenthalt erfolgte gegen 17.15 Uhr der Abstieg vom Gipfel. Unsere eigenen Spuren erleichterten hierbei die Orientierung. Auch kamen wir zügig voran. Während Elisabeth und Axel vom Radianow-Sattel aus den weiteren Abstieg durch die Firnwand fortsetzten, wartete ich dort auf die anderen. Ich setzte mich auf meinen Rucksack und bewunderte zum letzten Mal aus dieser Höhe die unbeschreibliche Schönheit der uns umgebenden Bergwelt. Wenig später gesellten sich Edgar und Klaus zu mir. Da sich inzwischen sämtliche Wolken verzogen hatten, besaßen wir nochmals eine hervorragende Fernsicht.
Gegen 19.30 Uhr, kurz vor Edgar und Klaus, traf ich schließlich erschöpft im Hochlager unter der großen Eiswand ein.

Die letzte Nacht auf 5.600 Meter (vom 7. zum 8. August) hatte ich erneut schlecht geschlafen. Man konnte es wohl eher als ein Ruhen bezeichnen. Ab etwa 9.00 Uhr unternahmen wir erste Versuche, aus den Schlafsäcken zu kriechen. Es war furchtbar kalt, denn unser Lager befand sich noch immer im Schatten. Zum Frühstück gab es wie üblich mit Trockenmilch zubereitetes Müsli. Ich konnte dieses Zeug nicht mehr sehen und kostete nur etwas, um meinen Magen zu beruhigen. Erst zur Mittagszeit hatten wir das Hochlager vollständig abgebaut und stiegen zurück zum Basislager.

In Abhängigkeit von der Höhe des Berges und der Gefahren im Eisbruch schätzten wir den alpinen Schwierigkeitsgrad der von uns erstbegangenen Aufstiegsroute bis zum Gipfel des Pik Radianow mit mindestens 4 A/B ein. Hierbei orientierten wir uns an der damals gültigen sechsteiligen sowjetischen Skala.

Einen Tag später, am 9. August, wurde durch Edgar, Axel und Klaus noch der 5.621 Meter hohe Birs, ebenfalls vom oberen Schini-Bini-Gletscher aus, bestiegen, bevor wir am 10. August endgültig unser Basislager räumten.
Der Rückmarsch erfolgte über den schwierigen und gefährlichen Schini-Bini-Gletscher, durch das Sugran-Tal und von dort über den Bel-Kandou-Paß (3.300 m) zum Bergdorf Muk im Muksu-Tal. Für diese Strecke, an die vierzig Kilometer durch teils unwegsames Gelände, benötigten wir vier Tage. Dieser Umstand ist wohl auch darauf zurückzuführen, daß unsere Rucksäcke nur noch etwa 25 Kilogramm wogen - gegenüber 45 bis 48 Kilogramm am Anfang der Tour.
Damit war die eigentliche Bergexpedition beendet, denn ab Muk standen uns wieder Verkehrsmittel für den Rücktransport bis nach Ljachsch zum nächsten Inlandflughafen zur Verfügung. Wir hatten Glück, auf der Ladefläche eines Lastkraftwagens diese Strecke schon bald überbrücken zu können.
In Ljachsch angekommen, erhielten wir zu unserer Überraschung ohne Schwierigkeiten Tickets für den nächsten Flug nach Duschanbe. Eine schon altersschwache und völlig überladene AN 2 (nach Auskunft des Piloten Baujahr 1947) beförderte uns schließlich für 12,50 Rubel pro Person in geradezu abenteuerlicher Weise an den Ausgangspunkt unserer Bergfahrt zurück.
 

Resümee

Wenn wir uns an die Pamir-Expedition von 1988 erinnern, wird deutlich, daß heute eine ähnliche Unternehmung wohl kaum zu realisieren wäre. Abgesehen von den eingangs genannten Schwierigkeiten bei der Anreise, trafen wir im Pamir selbst auf strapaziöse und gefährliche Anmarschwege in einer vom Tourismus (zum Glück) noch nicht erschlossenen, unberührten Bergregion. Schließlich wurde jeder Meter in diesem relativ unbekannten Gebiet zu Fuß und mit all unserer Ausrüstung zurückgelegt; der Gipfel selbst erkundet und eigenständig bestiegen. Doch es war vor allem auch eine Bergexpedition, wie sie (aufgrund der damaligen politischen Situation) nur unter DDR-Verhältnissen stattfinden konnte.
Gerade heute, wo auch das durchorganisierte Bergabenteuer käuflich zu erwerben ist, wird uns dies besonders bewußt und das damals Erlebte so wertvoll. Waren wir doch im Pamir die ganze Zeit von der Außenwelt abgeschnitten und völlig auf uns allein gestellt.
 
 

Bearbeitungsstand:  Juli 1998